08.01.2009
Finanzmärkte in Turbulenzen: Erwächst aus der Krise auch eine Chance?
Köln, den 08.01.2009 (Investmentfonds.de) -
Dr. Hans-Joachim Massenberg
stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes deutscher Banken
52. Bitburger Gespräche
Biersdorf am Bitburger Stausee
Ursachen der Finanzkrise
Fassen wir alles, was wir über die Finanzkrise bislang wissen, zusammen, so ist
sicherlich richtig:
- Die Risikomanagementsysteme vieler Banken haben die Komplexität einer Reihe von
Produkten und deren Risiken nicht adäquat erfasst,
- Die für die Vergütung zuständigen Aufsichtsorgane in den Banken haben die
Entgeltanreize falsch gesetzt,
- Banken und Aufsichtsinstitutionen haben zuviel auf Urteile Dritter, vor allem die
der Rating-Agenturen vertraut und
- sie haben der symmetrischen Wirkung von Bilanzierungsstandards – also der
Wirkungsweise des so genannten Fair Value-Prinzips über den gesamten Konjunkturzyklus
hinweg – nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet.
All diese Faktoren haben durch ihr Zusammenspiel die Krise entscheidend verstärkt. Aber
waren die Banken – oder weiter gefasst: waren die Finanzmärkte – wirklich die alleinigen
Verursacher?
Es mag für viele ungewohnt klingen, aber am Anfang der Krise stand der Ruf nach mehr
sozialer Gerechtigkeit – jedenfalls in den USA, wo die Wurzeln der Krise liegen. Nach
sozialer Gerechtigkeit in der typischen amerikanischen Form, den Traum vom eigenen Haus
zu realisieren.
Die erforderlichen Zutaten waren:
- eine zu expansive Geldpolitik und
- Regulierungslücken, die eine ungehemmte Kreditvergabe an Wohnungsbauinteressenten
unabhängig vom Einkommen erst ermöglichten.
Sie führten zu immensen globalen Ungleichgewichten, deren Brisanz von der Politik
unterschätzt und folglich nicht energisch genug bekämpft worden ist. Möglicherweise
sind politisch Verantwortliche auch dem Irrtum aufgesessen, man könne Probleme
exportieren oder sich – umgekehrt betrachtet – von Schieflagen in anderen Ländern
isolieren. Heute wissen wir: Dies ist in einer globalisierten Wirtschaft nicht mehr
möglich.
Ausgelöst wurde die Krise also auch durch Politikversagen. Wenn aus der Krise Chancen
für die Zukunft wirklich erwachsen sollen, dürfen wir diese Erkenntnis nicht ausblenden.
Lassen Sie mich ich an dieser Stelle ein Zwischenfazit ziehen. Gravierende Fehler
der Marktteilnehmer haben zusammen mit Politikversagen und unzulänglichen nationalen
und internationalen Finanzmarktregulierungen die Krise verursacht. Nur wenn wir dieses
teilweise komplexe Zusammenspiel verstehen, verfügen wir über eine ausreichende Basis,
um über die künftige Gestaltung einer stabilen Weltfinanzordnung zu diskutieren.
Fallstricke und falsche Lösungen
Das internationale Finanzsystem, wie wir es heute kennen, ist aus den Trümmern des
Bretton-Woods Systems entstanden. In den 35 Jahren seit dessen Zusammenbruch hat es
sich weiter entwickelt, allerdings ohne dass seine Struktur von irgendeiner Institution
bewusst geplant worden wäre. Die Triebfeder der Entwicklung lag in den Märkten selbst.
Ich gehe dennoch, glaube ich, nicht zu weit, wenn ich sage, dass dieses System zu einem
Segen für die Weltbevölkerung geworden ist. Denn durch den freien Kapital- und
Warenverkehr wurde rund um den Globus das Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum
stimuliert. Erst der freie Zugang zu Kapital ermöglichte in vielen Regionen der Welt
die erfolgreiche Bekämpfung der Armut.
Durch die Finanzkrise wurde dieser Wohlstandsmotor beschädigt. Die Frage, die es nun
zu beantworten gilt, lautet: Wie ernst ist dieser Schaden, und können wir den Motor
wieder zum Laufen bringen? Die Antwort darauf liegt meines Erachtens nicht in den
bisherigen Erkenntnissen über die Finanzkrise und ihren Folgen, sondern in dem, was
wir noch nicht wissen.
Dazu gehört vor allem, wie gut die G20 zusammenarbeiten werden, um einerseits
zielführende Regulierungen, andererseits aber auch nachhaltige Handels-, Geld- und
Finanzpolitiken zu entwickeln – und diese dann auch tatsächlich weltweit zu
implementieren.
Ein weiterer Aspekt: Die neuen Rahmenbedingungen für die Finanzmärkte werden deren
Entwicklung auf lange Zeit hinaus bestimmen. Die gesetzgeberischen Schlussfolgerungen,
die im Verlauf der kommenden eineinhalb Jahre gezogen werden, werden mithin die Basis
für Stabilität und Effizienz des Finanzsektors auf lange Zeit determinieren. Wir können
allerdings nur sehr vage voraussehen, welche Folgen aus den neuen Regulierungen
tatsächlich konkret erwachsen werden. Es ist weitgehend offen, wie eine neue
Finanzordnung Globalisierung und Wirtschaftswachstum beeinflussen wird.
Fest steht derzeit nur, dass die Chancen einer Neuordnung verspielt würden, falls durch
sie marktwirtschaftliche Prinzipien in Frage gestellt würden. Sie würden auch verspielt,
wenn alte Fehler wiederholt würden, wenn wir beispielsweise in protektionistische
Verhaltensweisen zurück fielen. Dies mag unwahrscheinlich klingen. Aber müssen wir in
den Versuchen zur Stützung der Automobilindustrie nicht erste Anzeichen eines
protektionistischen Politikwettlaufs befürchten?
Protektionistische Gefahren drohen vielleicht auch von anderer Seite: In den letzten
Jahren haben viele Schwellenländer vom Wachstum der Finanzmärkte profitiert. Dies hat
ihnen die Integration in die Weltwirtschaft erleichtert. Werden diese Länder auf
protektionistische Maßnahmen zurückgreifen, wenn es darum geht, den erreichten Wohlstand
zu verteidigen?
Eine schwere Verantwortung lastet also auf denjenigen, die derzeit über die richtigen
nächsten Schritte befinden müssen.
Alle müssen sich dieser Verantwortung voll bewusst sein. Die weltweite wirtschaftliche
Integration mit ihren positiven Auswirkungen auf den Wohlstand weiter Bevölkerungskreise
sowohl in den Industrie- als auch in den Schwellenländern wird sich nur fortsetzen lassen,
wenn das globale Finanzsystem nach seiner Neuordnung zur alten Dynamik zurückfindet.
Lehren und Lösungen – die Weltfinanzordnung neu gestalten
Meine sicherlich unvollständige Skizze der vor uns liegenden Aufgaben zeigt zumindest
eines: Die Neuordnung der Finanzmärkte ist eine Herkulesaufgabe. Sie erfordert den
Einsatz aller verfügbaren Kräfte. Sie benötigt darüber hinaus vor allem Sachverstand.
Im Kern wird es darum gehen müssen, die erforderliche Marktbereinigung im Finanzsektor
und der Realwirtschaft so zu gestalten, dass von der kreativen Zerstörung im Sinne
Schumpeters nicht nur Zerstörung bleibt, sondern ein stabiler internationaler Finanzmarkt
sowie eine langfristig wettbewerbsfähige Wirtschaft.
Mit anderen Worten, wir müssen ein Finanzsystem schaffen, das ähnlich innovativ wie das
vergangene ist, bei allerdings deutlich verbesserter Stabilität. Dazu müssen ohne jeden
Zweifel viele Fragen der Regulierung der Finanzmärkte neu beantwortet werden. Aber ich
möchte mit Nachdruck darauf hinweisen: Ohne die Berücksichtigung wichtiger
makroökonomischer Aspekte werden neue Regulierungen nur Stückwerk bleiben. Die Ursachen
der Krise waren nicht eindimensional – daher kann auch die Kur sich nicht nur auf einen
Teilaspekt beschränken.
Lassen Sie mich darauf näher eingehen. In den vergangen Jahren haben sich in der
Weltwirtschaft riesige Ungleichgewichte aufgebaut – ich erwähne nur das amerikanische
Leistungsbilanzdefizit von knapp 800 Mrd $ sowie die korrespondieren Währungsreserven
bei asiatischen Notenbanken. Für die friktionslose Beseitigung solcher Ungleichgewichte
gibt es bislang keine überzeugenden Lösungsansätze. Besser wäre es deshalb, solche
Ungleichgewichte erst gar nicht entstehen zu lassen. Wünschenswert wäre demnach ein
international akzeptiertes Verfahren, mit dessen Hilfe die Früherkennung von
Ungleichgewichten wirkungsvoll verbessert werden kann.
Um dies in Zukunft zu leisten, ist zunächst die Geldpolitik gefordert. Sie muss Fragen
nach den richtigen Zielparametern sowie der Notwendigkeit einer internationalen
Koordinierung beantworten. Ernsthaft diskutiert werden sollte ergänzend, inwieweit es
sinnvoll ist, internationale Regeln zu etablieren, damit Blasen an den Finanzmärkten
früher bekämpft werden können. Zu diesem Zweck wird sowohl ein Frühwarnsystem als auch
ein besseres internationales Krisenmanagement erforderlich sein. Die internationalen
Organisationen, die dieses leisten können, bestehen bereits.
So könnte einerseits der IWF eine zentrale Rolle in einem Frühwarnsystem übernehmen.
Als internationale Institution mit entsprechenden Kapazitäten und Erfahrungen ist er
geeignet für umfassende Analysen und die Entwicklung von Empfehlungen aus übergeordneter
Perspektive. Ein Frühwarnsystem wäre andererseits aber erst dann wirkungsvoll, wenn es
auch mit der Regulierungsseite verknüpft ist. Deshalb wäre eine politische Rückkopplung
mit der Bank für internationalen Zahlungsausgleich – insbesondere mit dem Forum für
Finanzstabilität – wünschenswert. Der IWF mit seiner globalen Reichweite und das FSF
mit seiner stabilitätspolitischen Bedeutung und Kompetenz ergänzen sich ideal.
Dies alles wird freilich nur funktionieren, wenn die IWF-Mitglieder bereit sind, den
Empfehlungen des Fonds mehr Gewicht beizumessen als das bislang der Fall war. Zudem
müssen alle bereit sein, die Finanzmarktstabilität als gemeinsames Ziel zu begreifen.
Und um die makroökonomischen Maßnahmen zur Krisenprävention abzurunden: Ein wesentlicher
Beitrag zur Verhinderung zukünftiger Krisen wird auch in Zukunft in einem freien
Welthandel von Waren, Dienstleistungen und Kapital liegen.
Ein erfolgreicher Abschluss der Doha-Runde wäre mithin auch ein wichtiger Baustein für
eine stabile Weltfinanzordnung.
Lassen Sie mich nun zu der Frage kommen, welche Art der Regulierung einen innovativen
und stabilen Finanzmarkt künftig gewährleisten kann.
In diesem Kontext stellt sich vordringlich eine im weiteren Sinne institutionelle Aufgabe.
Die Finanzindustrie – als der wohl am stärksten globalisierte Teil der Weltwirtschaft –
ist längst über nationale Grenzen hinaus gewachsen, die Aufsicht der Finanzmärkte
unterliegt aber der nationalen Souveränität, was wohl auch in Zukunft so bleiben wird.
In einem derart zersplitterten Umfeld werden regulatorische Alleingänge eher schaden als
das dringend notwendige Vertrauen schaffen. Angesichts der Vielzahl aktueller nationaler
und internationaler Vorschläge rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie diese Vorstellungen
in ein stimmiges Gesamtkonzept münden sollen. Um schädliche internationale
Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, müssen alle neuen Regelungen auf multilateraler
Basis, in internationalen Gremien der Standardsetzer abgestimmt und dann einheitlich in
den einzelnen Jurisdiktionen umgesetzt werden. Denn globale Märkte brauchen eine global
möglichst einheitliche Aufsichtstruktur ohne Regelungs- und Kompetenzlücken. Und dies
auf der Basis einer sehr engen Koordination der Aufsichtsbehörden. Der Vorschlag der EU-
Kommission, für grenzüberschreitende Bankengruppen „Colleges of Supervisors“ einzurichten
und der Aufsichtsbehörde des Mutterinstituts dafür bestimmte Prozesssteuerungskompetenzen
einzuräumen, weist deshalb in die richtige Richtung.
Im Rahmen der G20-Verhandlungen sollte dieser Ansatz durch internationale Colleges
ergänzt werden. Gelingt dies, dann würde die Struktur der Aufsicht der Struktur des
Marktes und der Organisation des Bankgeschäfts folgen.
Selbstverständlich müssen auch die institutionellen Strukturen und Regeln hinsichtlich
des Risikomanagements und der Eigenkapitalvorschriften der Banken überdacht werden.
Allerdings muss dies mit Bedacht und mit Gespür für die dann aktuelle Marktlage erfolgen.
Auch richtige Maßnahmen – zum falschen Zeitpunkt eingeführt – können die Stabilität des
Gesamtsystems gefährden.
Weitere Schwachstellen der bisherigen Finanzmarktordnung waren die Rating-Agenturen und
die Vergütungsstrukturen in den Finanzunternehmen. Bei einer Regulierung der Rating-
Agenturen, die auf EU-Ebene in Vorbereitung ist, muss darauf geachtet werden, dass wegen
der globalen Natur der Finanzmärkte Ratings grenzüberschreitend vergleichbar bleiben.
Deshalb sollte die bevorstehende EU-Verordnung mit den internationalen Gepflogenheiten
kompatibel sein.
Mit dem 2008 im Lichte der Erfahrungen mit der Finanzmarktkrise revidierten IOSCO-Code
ist ein allgemein anerkannter internationaler Standard für die Organisation und das
Verhalten von Rating-Agenturen verfügbar. Die künftige EU-Regulierung sollte darauf
aufbauen und die Anwendung der Inhalte des IOSCO-Codes durch die Rating-Agenturen
verbindlich vorschreiben. Die Einhaltung und Durchsetzung des Codes könnte dann Aufgabe
der Aufsichtsbehörden in der EU sein.
Was die Vergütungsstrukturen bei Finanzinstituten anbetrifft, so werden diese zunächst
selbst gefordert sein. Eine gesetzlich verordnete Höchstgrenze ist nicht erforderlich,
ja sogar kontraproduktiv. Die Finanzinstitute haben die Schwachstellen erkannt und sind
dabei, die Vergütungssysteme auf eine längerfristige und nachhaltige Basis zu stellen.
In inhaltlicher Hinsicht sollte das Ziel aller Regulierungsbemühungen ein stärker
prinzipienbasierter Ansatz sein. Anders als der noch mit dem Basel II-Regelwerk verfolgte
Ansatz wäre die Regulierung flexibel gegenüber dem Wandel an den Finanzmärkten, würde also
mit den Märkten „atmen“ können. Allerdings führt diese Form der Regulierung nur dann zu
einem höheren Grad an Finanzmarktstabilität, wenn alle nationalen Aufseher diese Prinzipien
auch einheitlich interpretieren. Wichtig ist mithin, diese prinzipienbasierte Regulierung
international abzustimmen.
Wichtig ist auch die Einsicht, dass es mit mehr Regulierung alleine nicht getan ist. Bei
Konzeption und Beschluss neuer rechtlicher Vorgaben dürfen die Maßstäbe einer „Besseren
Regulierung“ nicht über Bord geworfen werden. Finanzinstitute – wie kürzlich von
maßgeblicher deutscher Seite vorgeschlagen wurde – nur stärker an die Kette zu legen,
würde uns um Jahrzehnte zurückwerfen.
Erforderlich ist vielmehr eine wirksame Folgenabschätzung regulatorischer Maßnahmen und
eine effektive Rückkoppelung mit der Praxis. Es muss gewährleistet sein, dass auch die von
den jeweiligen Maßnahmen Betroffenen ihre spezifische Sachkenntnis und Erfahrung einbringen
können.
Und nicht jeder neue Regelungsvorschlag muss in ein Gesetz münden. Dies gilt gerade vor
dem Hintergrund der neu entfachten Staatsgläubigkeit. Grundsätzlich bestehen immer
verschiedene Regulierungsoptionen. Selbstverpflichtungen der Betroffenen auf freiwilliger
Basis sollen und müssen auch in der neuen Weltfinanzordnung eine Rolle spielen.
Fazit
Ein stärker regulierter und vermeintlich sicherer Finanzmarkt kostet Wachstum,
Arbeitsplätze und Wohlstand. Für einen besser regulierten gilt dies nicht notwendigerweise.
Diese bessere Regulierung zu finden, darin liegt die Chance, die wir nutzen müssen.
Nachdem das Feuer zunächst gelöscht zu sein scheint, wird vieles davon abhängen, dass nun
die richtigen Entscheidungen getroffen werden.
Erste, durchaus geeignete Blaupausen hierzu liegen bereits vor: Das Abschlusskommuniqué
der G20 bietet Aussicht auf zielführende und vor allem international auch mit den
wichtigsten Schwellenländern abgestimmte Maßnahmen. Im Rahmen der G20 wird entschieden
werden, ob die Voraussetzungen für ein innovatives und stabiles Finanzsystem – nämlich
ein System mit einem Gleichgewicht zwischen Aufsicht und Marktteilnehmern – tatsächlich
geschaffen werden kann.
Auch die von der deutschen „Issing-Kommission“ ins Spiel gebrachten Forderungen – etwa
hinsichtlich mehr Transparenz der Märkte und besserer Aufsichtsstrukturen in der Welt –
bieten Anlass zu Optimismus, dass am Ende die richtigen Lehren aus der Finanzkrise
gezogen werden. Damit dieses Vorhaben Erfolg verspricht, muss die Gesamtwirkung von
Transparenz-, Offenlegungs- und Kapitalunterlegungspflichten ausgewogen bleiben. Allen
Verantwortlichen sollte klar sein, dass letztlich auch eine Fülle neuer Regelungen nicht
alle Risiken eindämmen kann, jedoch zu einer Inflexibilität des Systems beiträgt, die
in sich den Keim einer neuen Finanzkrise trägt.
Quelle: Investmentfonds.de